
Telematik-Tarife in Kfz-Policen individualisieren die Versicherung. Bleibt dabei das Solidarprinzip auf der Strecke? Foto: Helena Lopes, unsplash.com
Gefährden beispielsweise sogenannte Telematik-Tarife in der Kfz-Police das Solidarprinzip von Versicherungen? Auch Tesla plant, individualisierte Tarife anzubieten: So soll das Auto das Fahrverhalten des Nutzers analysieren, um eine Art individuelles Risikoprofil zu erstellen. Die Individualisierung im Versicherungswesen sollte jedoch ihre Grenzen haben, findet unser Forist und Autor Fussilinus:
Schwindende Eigenverantwortung…
Bisher konnte man davon ausgehen, dass Versicherungen große Risiken sozialisieren durch Einbringung des Risikos in ein Kollektiv. Dabei gibt es schon immer einen Interessenkonflikt. Wer als Versicherungsnehmer sein Risiko absichert, es also auf viele andere Schultern verteilen kann, der hat naturgemäß kaum noch ein Interesse daran, dieses Risiko zu reduzieren. Die Eigenverantwortung schwindet. In anderem Kontext nennt man das „Die Tragik der Allmende“.
…gegen Gewinnmaximierung
Der Versicherer hingegen hat ein Interesse daran, möglichst keine Regulierungen tragen zu müssen, bzw. deren Wert möglichst niedrig zu halten. Das wird ihm helfen, zum einen im Wettbewerb günstigere Prämien anbieten zu können, zum anderen aber natürlich auch seinen Gewinn möglichst steigern zu können.
Anreize zur Risikominimierung
Um dem Versicherungsnehmer Anreize zur Risikominimierung anzubieten, gibt es viele Möglichkeiten. Sehr bekannt dürften die Schadensfreiheitsklassen (SF) In der KFZ-Versicherung sein. Je länger man schadensfrei fährt, desto höher die Beitragsrabattierung und desto niedriger die Beiträge. Dadurch ergibt sich ein anhaltendes Interesse, das eigene Risiko möglichst klein zu halten.
Ein anderes bekanntes Modell dürfte das Bonusheft beim Zahnarzt sein. Es wird ein Anreiz geschaffen, regelmäßig zur Vorsorge zu gehen, in der Hoffnung, dadurch Behandlungskosten möglichst zu vermeiden oder wenigstens so gering wie möglich zu halten. Im manchen Krankenversicherungen werden Extremsportarten ausgenommen oder dadurch entstandene Verletzungen als „Vorsatz“ eingestuft.
Es gibt also schon immer Bestrebungen durch den Versicherungsgeber das Risiko einzelner Versicherungsnehmer durch Anreize möglichst zu reduzieren. Darüberhinausgehend gibt es auch schon immer Bestrebungen, Risiken unterschiedlich zu gewichten.
Beispiel Kfz-Versicherung
Zurück zur KFZ-Versicherung, dort kennt man entsprechend die Fahrzeugklassen. Man nimmt an, dass ein hochmotorisiertes Fahrzeug ggfs. einen höheren Schaden verursachen wird als ein schwachbrüstiges Modell. Man schließt von der Leistung und dem Modell auch auf die Fahrweise und die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens. Klar, mit einem 70 PS Kleinwagen kann man nicht so riskant fahren wie mit einem 300 PS Sportwagen. Über die Jahreskilometerleistung berücksichtigt man dann noch die Zeit, die das Fahrzeug am Verkehr teilnimmt und damit die Zeit in der ein Risiko überhaupt besteht, auch sehr nachvollziehbar.
Wer überzieht, zerstört die Gemeinschaft
Das Problem dieser Bestrebungen zur Risikoreduzierung: Der Risikogemeinschaft geht die Gemeinschaft verloren, wenn man es dabei übertreibt. Es wird eher eine Versicherung von individuellen Risiken. Statt Solidarität werden Risikogruppen gegeneinander abgewogen und voneinander abgegrenzt. Das geht soweit, dass sogar das persönliche Risiko über die Zeit als stark schwankend bewertet wird.
Telematik-Tarife und die Folgen
Stichwort sind z.B. die „Telematik-Tarife„. Damit wird der Beitrag von einzelnen Fahrsituationen abhängig. Kann es sein, dass die Wochenendtour dann plötzlich einen anderen Tarif bekommt als die tägliche Pendelstrecke zur Arbeit? Kann es sein, dass die eigene Versicherung nicht erst nach einem Unfall durch die steigende SF-Klasse teurer wird, sondern schon alleine dadurch, dass man mal eben riskant gefahren ist? Oder weil man plötzlich scharf bremsen musste um eine über die Straße laufende Katze des Nachbarn zu schonen? Wird man zukünftig diese besser überfahren, um einer Umstufung zu entgehen?
Im Gesundheitsbereich wurden der zunehmenden Individualisierung Grenzen gesetzt. So darf die private Krankenversicherung keine unterschiedlichen Tarife mehr für Männer und Frauen anbieten es gilt der uni-sex Tarif. Dabei ist es offensichtlich, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern bzgl. diverser Gesundheitsrisiken bestehen, man denke nur an Brust- oder Prostatakrebs. Es ist also durchaus möglich, der zunehmenden Individualisierung von Risikobetrachtungen entgegenzuwirken.
Wie weit darf das „Scoring“ gehen?
Die Digitalisierung erlaubt die Datenerhebung und Verarbeitung bis herunter zum einzelnen Versicherungsnehmer und zur einzelnen Sekunde. Telematik-Tarife sind da nur der Anfang. Wie weit wollen wir die Individualisierung im Versicherungswesen treiben, das s.g. Scoring? Wir brauchen eine Diskussion darüber, ob wir eine Gemeinschaft bleiben wollen und gemeinsam die Risiken des jeweiligen Mitmenschen mittragen – oder ob wir lieber individuell günstig versichert sein wollen.
Egoismus im Versicherungsprinzip, das verträgt sich nicht mit dem Ursprungsgedanken der Sozialisierung, des gemeinschaftlichen füreinander Einstehens. Hier wird nach Ansicht des Autors klar eine Grenze im Anreizsystem Risikovermeidung überschritten. Nur: wo und wie zieht man die Grenze?
Solidarität vor Egoismus
Wenn man Männer und Frauen nicht auseinanderdividieren darf, dann sollte man auch generell darauf verzichten, die Versicherungsnehmer in Gruppen einzuteilen. Wir sind zwar nicht gleich, aber in einer Versicherungsgemeinschaft sollten alle gleich behandelt werden. Das Solidaritätsprinzip sollte uns wichtiger sein als der Egoismus.
Ein erster Schritt wäre es, eine Datenerhebung durch den Versicherungsgeber zum Verhalten der Versicherungsnehmer zu unterbinden. Keine Live-Daten, sondern nur wirklich eingetretene Schadensereignisse dürfen zur Risikobetrachtung herangezogen werden.
Warum soll es bei vernünftiger Fahrweise keine Vergünstigung geben? OK, ob man sich sein Fahrdaten aufzeichen will, ist ein anderes Thema. Und freiwillig nutzbar:
Bei guter Fahrweise erhalten Sie einen grosszügigen Rabatt auf Ihre Versicherungsprämie.
https://www.mobiliar.ch/versicherungen-und-vorsorge/fahrzeuge-und-reisen/autoversicherung/autoversicherung-cleverdrive
Ich halte das für sehr willkürlich, da man ja alle individuellen Fähigkeiten abgleichen müßte. Was für Walter Röhrl eine vernünftige Fahrweise ist, ist für die Oma nebenan eine Hochrisikofahrt.
Ich halte es im übrigen für falsch hier KFZ-Versicherung mit Krankenversicherung zu vergleichen.
Im Grunde ist die staatliche Krankenversicherung eine verkappte Steuer und muß nur wegen der dt. Steuergesetze Versicherung genannt werden. Hier hilft manchmal der Blick über die Landesgrenzen.
Aber auch ein Walter sollte nicht schneller fahren, auch wenn er es beherrschen würde, würden andere Verkehrsteilnehmer dadurch irritiert und gestört werden.
Querverkehr sollte auf Rennstrecke ja eher selten vorkommen.
Deine gute Fahrweise wird ja heute auch schon durch SF-Klassen belohnt…
die Frage ist auch, durch was die häufigsten Unfälle zustande kommen? Wirklich durch schlechte Fahrweise?
Oder vielleicht durch Unaufmerksamkeit? Wie will man Unaufmerksamkeit messen? (da rede ich nicht von EyeTracking)
Es kann jemand noch so defensiv fahren, aber wenn er/sie mit einer bestimmten neuen Situation überfordert ist, kann es ebenso krachen…
Und wenn man auf leerer Autobahn mal ordentlich hochbeschleunigt, muss das auch noch lange nicht schlechtes oder risikoreiches Fahren sein…
Alles nicht so einfach meines Erachtens…
Doch, ist sehr einfach. Da die meisten Unfälle außerorts auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen sind, siehe beigefügter Link, muss man nur nur die Geschwindigkeit des Fahrzeugs messen, und mit der erlaubten abgleichen. So kann man recht einfach die Risiken beurteilen.
https://www.bussgeldkatalog.org/unfallursachen/
Überhöhte Geschwindigkeit ist auch, wenn du wo z.B. 100 erlaubt sind, im Winter bei Glätte nicht langsamer in die Kurve fährst, obwohl ja immer noch 100 erlaubt sind… nein, das ist eben meines Erachtens nicht alles „sehr einfach“….
Rutschig Fahrbahn lässt sich einfach durch die Telematik feststellen.
Ganz so abwegig ist m.E. der Grundgedanke der Solidarität bei Kfz Versicherungen nicht: Mutmaßlich ist das Verletzungsrisiko in einem Kleinwagen viel höher als in einem schweren SUV. Dementsprechend müsste der ohnehin finanzschwächere Kleinwagenbesitzer ein höheres Risiko bezahlen, weil er ohne eigenes Zutun von lauter SUVs umgeben ist, an denen er bei Unfall zerschellt. Genauso könnten Sondertarife diejenigen bevorteilen, die sich potentiell teurere und besser ausgestattete Fahrzeuge leisten können, und der arme Dritthandbesitzer schaut in die Röhre.
Wahrscheinlich wäre es schon sozial und gerecht genug, wenn man pro 1000€ Neuwagenpreis X€ Versicherungsprämie zahlen würde, oder?